Identitätskrise in der Lebensmitte

Inspiriert vom Buch: Lebensmitte als geistliche Aufgabe von Anselm Grün

 

Und plötzlich merken wir, dass wir in der Lebensmitte angekommen sind. Nicht nur der Körper verändert sich, sondern auch unser Charakter und Interesse. In der Gesellschaft sprechen wir von der Midlife-Crisis. Der Ausdruck Krise gefällt mir nicht. Wie Anselm Grün es in seinem Buch so schön beschreibt, geht es hier nicht um eine Krise, sondern um ein neues Ausbalancieren.

Das Ziel der ersten Lebenshälfte ist einen guten Stand in der Welt zu finden, unsere Identität zu finden und zu bewahren. In der Lebensmitte tauchen Fragen auf wie z.B. «Was ist mein Lebenssinn?», «Lohnt es sich so viel in die Arbeit zu investieren?», «Ist Erfolg das, was meinem Leben Sinn gibt?». Angst macht sich breit. Angst vor der eigenen Wertlosigkeit, Angst vor den Schuldgefühlen und Angst vor der Vergänglichkeit. Getrieben von der Angst wertlos zu sein oder wertlos zu werden, stürzen wir uns in die Leistung. Weil die Angst vor Schuldgefühlen kommt, verausgaben wir uns bis zum Burnout, damit uns niemand was anhaben kann. Aus lauter Angst weigern wir uns, in uns selber hinein zu sehen. Die innere Unruhe machen wir wett, indem wir dem Äusseren versuchen Struktur zu geben. Gegen innen verweigern wir die Aktivität, gegen aussen sind wir sehr aktiv. Wir investieren uns in die Freiwilligen-Arbeit, treiben Sport, springen alle paar Jahre auf einen neuen Trend. Bei Frauen, denen das Aussehen wichtig ist, lösen erste Falten Panik aus. Das Bewusstsein, dass die Jugendlichkeit schwindet, lässt sie ins Fitnessstudio flüchten, sie fangen mit Joggen an oder überlegen sich sogar schönheitschirurgische Massnahmen zu machen.

Aber all das hilft nicht, dass wir innerlich zur Ruhe kommen. Die äusseren Merkmale beeinflussen unsere Identität nicht, da wir hier im Prozess stehen, uns von dem, was in der ersten Lebenshälfte unser Orientierungspunkt war, nämlich das Äussere, zu lösen und uns am Inneren zu orientieren. Wir sind im Prozess das Innere mit dem Äusseren in Übereinstimmung zu bringen, es auszubalancieren.

In der 2. Lebenshälfte geht es darum, dem eine Berechtigung zu geben und auszuleben, was eher zu kurz kam oder was ich bis anhin unterdrückt habe. Es handelt sich aus meiner Sicht somit nicht um eine Krise, sondern um eine Chance. Es bietet mir die Chance, Muster und Werte zu hinterfragen und mich evtl. sogar von ihnen zu trennen. Der Glaube bekommt einen wichtigen Stellenwert. Welchen Halt gibt er mir? Besteht er nur aus Religiosität oder besteht eine Gottesbeziehung, die mir den festen Boden gibt, um mich auf dem Weg der Endlichkeit zu begleitet?

 

Ich orientiere mich also nach innen. Und so kommt es, dass Dinge, die ich bisher gerne getan habe, mir plötzlich als unwichtig erscheinen. Der innere Wert löst die Bedeutung der Äusserlichkeit ab. Und diesen Prozess empfinden wir oft als Identitätskrise und nicht als Chance. Ich darf mich getrost fragen:

  • Welche Begabung, welche Sehnsucht, welcher Teil meiner Persönlichkeit hat im Alltag zu wenig Raum bekommen?
  • Was möchte ich gerne tun? Was steht noch an?
  • Wo habe ich Rollen übernommen?
  • Was gibt es neben mir noch? Einen angepassten oder rebellischen Teil?
  • Welche Möglichkeiten/Beschäftigungen schlummern noch in mir?
  • Welche Glaubenssätze halten mich zurück, meine Befähigung sichtbar zu machen?
  • Welches Verbot habe ich mir aufgestellt oder habe ich in meinem Lebensskript?
  • Wie gehe ich mit der Tatsache der begrenzten Lebenszeit um?

Und ich darf die Chance packen und mich lösen von dem Bild des perfekten Menschen, dem eigenen Ego, von alten Lebensmustern, Strategien, Sicherheit und Kontrolle, von Beziehungen und Gottesbildern. In der zweiten Lebenshälfte geht es darum, das Tempo zu verringern. Zeit haben für die Dinge, die mich glücklich machen. Mich den Dingen widmen, die mir festen Boden unter den Füssen geben. Die bis dahin zurückgedrängten Werten dürfen sich entfalten.  

Eva Gruber